Mit dem Eröffnungsfilm "Zátopek“ hat das 55. Karlovy Vary International Film Festival offiziell begonnen. Trotz Gäste-Kontroversen und Corona-Schatten ist es gerade die Kinonormalität, die hier in erster Linie gefeiert werden möchte.
Bei meinem letzten Besuch in Karlsbad vor ein paar Jahren erzählte mir ein tschechischer Journalist, dass das Hotel Thermal, dieser gigantische, potthässliche und gleichzeitig kultige Betonklotz im Herzen von Karlovy Vary und auch des internationalen Filmfestivals, schwer angezählt sei. Die Substanz des Gebäudes ist eigentlich komplett renovierungsbedürftig. Wenn man zufällig mal durch die Tiefgarage des Thermals streift, weiß man, was der Kollege meint: Rost, beschädigte Gebäudesubstanz und Wasserlachen, wohin das Auge nur schaut. Früher oder später wird sich das "Karlovy Vary International Film Festival" (kurz: KVIFF) also definitiv ein anderes Festivalzentrum, möglicherweise auch einen anderen Austragungsort suchen müssen. Doch nach einer fast zweijährigen Covid-19-bedingten Abstinenz war ich selten so froh diesen Betonklotz bei der Einfahrt in das malerische Karlsbad schon von Weitem erblicken zu können. Inmitten dieser irgendwie irren, fast schon surreal-hübschen Kulisse bildet das Thermal auch dieses Jahr wieder das Herz und die Seele, in der sich die Tausende von enthusiastischen Festivalgänger*innen tummeln, im großen Saal des Thermals (in dem ich einige der erinnerungswürdigsten Screenings meines Lebens erleben durfte) einen Film nach dem Nächsten genießen oder rund um das Thermal den Stars auf dem roten Teppich zujubeln oder sich in eines der zahlreichen Bierzelte niederlassen. Karlovy Vary ist neben dem Film-Festival auch immer eine große Gaudi – und das ist gefühlt auch dieses Jahr trotz der Auswirkungen von Covid-19 nicht anders.
55. KVIFF: Eröffnung und Wettbewerbsausblick
Ein Stückchen Normalität und viele Gründe zum Feiern gab es natürlich auch bei der großen Eröffnungsfeier, die wieder mit einem kurzen und schön inszenierten Show-Programm eingeleitet wurde bevor nach den obligatorischen Programm-Vorstellungen und Reden schließlich der erste große Star-Gast des Festivals ausgezeichnet wurde: Niemand geringeres als Sir Michael Caine gab sich die Ehre und verzauberte den komplett gefühlten großen Saal des Hotel Thermals mit seiner kurzen und charmanten Dankesrede. Filmisch ging das Festival auf Nummer sicher, gleichzeitig auch mit einem sehr logischen Eröffnungsfilm: In "Zápotek" wird dem legendären tschechischen Läufer Emil Zátopek gehuldigt, der als erster und bisher einziger Läufer bei den Olympischen Spielen von Helsinki im Jahr 1982 Gold in den Disziplinen 5.000 m, 10.000 m und beim Marathon erringen konnte. Im Grunde ist "Zátopek" ein schön produziertes und gut gespieltes, gleichzeitig aber auch sehr braves und etwas zu langes Film-Biopic, das man schon in etwas so erwarten konnte. Gleichzeitig war der Saal im Thermal beim Eröffnungsfilm auch selten so voll bei einem Eröffnungsfilm: Kein Wunder, schließlich erzählt der Film eine Feel-Good-Erfolgsgeschichte, die zur Wiederbelebung eines solchen Filmfestivals auch perfekt reinpasst.
Die Eröffnung gab den Startschuss für über eine Woche buntes Festivaltreiben: Zwischen dem 20. – 28.08. zelebriert das Karlovy Vary International Film Festival wieder Filme und das Kino in mehreren Sektionen. Hauptaugenmerk richtet das Festival wie immer auf den großen Wettbewerb: Hier tummeln sich insgesamt 12 Filme, die um den begehrten Kristallglobus und ein ordentliches Preisgeld kämpfen. Außergewöhnlich: Gleich zwei deutsche Vertreter finden sich in der internationalen Auswahl. Regisseurin Lisa Bierwirth inszeniert in "The Prince" die fragile Liebesgeschichte zwischen Monika und Joseph – einer Kuratorin und einem Flüchtling aus dem Kongo. „The Prince“ feiert bereits am 21. August seine große Premiere im großen Saal des Thermal Hotels. Etwas später ist hingegen ein alter Rückkehrer zu sehen: Nach „Heil“ (2015) präsentiert Dieter Brüggemann seinen neuesten Film „Nö“ ebenfalls im Wettbewerb des KVIFF 2021 und nimmt sich diesmal die unerfüllbaren Wünsche der „ThirtySomethings“ vor.
55. KVIFF: Go East | Johnny Depp und Ethan Hawke sind weitere Stargäste
Ein weiterer Wettbewerb des 55. KVIFF widmet das Festival dem osteuropäischen Filmschaffen: In der "East of the West"-Reihe finden sich immer wieder spannende Filmschätze bspw. aus dem Balkanraum. Doch natürlich fehlen auch in Karlsbad nicht die großen Namen, die bereits bei der Berlinale bzw. beim Cannes Filmfestival für Furore gesorgt haben: Mit "Memoria" von Apichatpong Weerasethakul, "Vortex" von Gaspar Noé oder „Herr Bachmann und seine Klasse“ sind gleich mehrere Festivallieblinge in der „Horizons“-Sektion des Festivals zu finden. Retro-Filmfans sollten definitiv die schöne „A Tribute to Film Foundation“-Retrospektive im Blick behalten, in der es bspw. neue Prints von Meisterwerken wie „A Bright Summer Day“ von Edward Yang, „A Woman Under the Influence“ von John Cassavetes oder „The Breaking Point“ von Michael Curtiz zu sehen gibt.
Zum Abschluss des Festivals erlaubt sich das Karlovy Vary International Film Festival noch einmal etwas Kontroverse: Weniger mit Stargast Ethan Hawke, der beim Festival ausgezeichnet wird und „First Reformed“ von Paul Schrader, in dem Hawke zweifellos eine seiner vielschichtigsten und beeindruckendsten Schauspielleistungen abliefert. Nein, es geht natürlich um Stargast Johnny Depp, dessen Auszeichnung beim renommierten Filmfestival von San Sebastian bereits Kritik laut werden ließ. Vielleicht ist die Auszeichnung von Depp auch ein weiterer Ausdruck der bröckelnden Festivalfassade: Man glaubt dem Festival zwar, dass es sich der Kontroverse raushalten will und nur den Schauspieler Johnny Depp dem begeisterten Festivalpublikum näherbringen möchte, doch ein paar Risse und fiese Kopfschmerzen liefert die Signalwirkung nach außen dann doch deutlich ab. Gleichzeitig ist klar: Hier ist jede Entscheidung nicht etwa für irgendwelche PR-Menschen bzw. Produzenten konzipiert, sondern vor allem für das filmbegeisterte Publikum. Ein "Karlovy Vary Film Festival" ohne Zuschauer*innen ist komplett unvorstellbar.
55. KVIFF: Ein Publikumsfestival, das den Namen auch verdient
Auch deshalb ist das Karlovy Vary Film Festival mehr als nur ein Geheimtipp im Festivalkalender passionierter Filmgänger geworden, schließlich kombiniert es die größten Vorzüge sämtlicher filmischen Großveranstaltungen: ein tolles und vielfältiges Programm, interessierte Zuschauer*innen und echte Stars zum Anfassen – und das zu äußerst günstigen Ticket-Preisen. Im Gegensatz zu den „großen Konkurrenzfestivals“ aus Cannes und Berlin ist das Karlovy Vary Film Festival immer ganz nah dran an seinem Publikum geblieben: Für umgerechnet gerade einmal 2,50 Euro (und das schon konstant seit Jahren zu diesem Preis) gibt es hier schon ein begehrtes Filmticket – da dürfen sich die „Großen“ gerne etwas abschneiden.