Im Interview spricht Regisseur Jacques Audiard über sein provokantes Trans-Kinomusical „Emilia Pérez“, das nicht nur Genre-Grenzen sprengt.
Nicht nur den Jury-Preis beim renommierten Filmfestival von Cannes konnte sich das Musical-Drama „Emilia Pérez“ in diesem Jahr sichern, sondern auch die begehrten Schauspielerinnen-Preise für das gesamte weibliche Ensemble, bestehend aus Karla Sofía Gascón, Zoe Saldaña, Selena Gomez und Adriana Paz. Wer „Emilia Pérez“ das erste Mal im Kino sieht, versteht auch sofort, warum: Das Musical-Drama über einen brutalen mexikanischen Gangsterboss, der sich einer Geschlechtsumwandlung unterzieht und als Frau plötzlich zur Philanthropin wird, ist herausragend gespielt, überschreitet spielerisch leicht Genre-Grenzen und ist einer der spannendsten Kinofilme des Jahres.
Wir konnten mit dem französischen Regisseur Jacques Audiard im Rahmen des Filmfests Hamburg über sein Trans-Musical-Drama sprechen. Dabei verriet uns der preisgekrönte Regisseur nicht nur, dass das Projekt eigentlich ganz anders geplant war, sondern auch, warum ein Prequel zu „Emilia Pérez“ durchaus Sinn ergeben würde.
TVMovie.de: Hat Sie bei „Emilia Pérez“ besonders gereizt, dass es sich um eine Person oder eine Hauptfigur handelt, die normalerweise sehr männlich konnotiert ist und in diesem Film eine ganz andere Rolle annimmt?
Jacques Audiard: Dieses Paradoxon ist das, was die Geschichte für mich so spannend macht. Die Idee ist aus einem Roman, in dem es in einem Kapitel um einen Drogenboss geht, der eben sein Geschlecht verändern möchte. Er will von einem Mann zu einer Frau werden. Eigentlich müsste man noch einen weiteren Film machen, der von den 30 Jahren davor handelt, die er in diesem Beruf als Drogenboss gelebt hat. Die ganzen Kugeln, die er verschossen hat. Die Menschen, die er getötet hat. Und die Leben, die er ausgelöscht hat. All das müsste in einem weiteren Film aufgearbeitet werden. Das wäre dann das Prequel.
Stimmt es, dass „Emilia Pérez“ zunächst als anderes Projekt geplant war?
JA: Da würde ich zunächst gerne einen kleinen Exkurs machen. Bevor klar war, dass „Emilia Pérez“ ein Film werden würde, habe ich einen Text geschrieben, der ähnlich aufgebaut war wie ein Opern-Libretto. Es war ein circa 30 Seiten langer Text, der in vier Akte aufgeteilt war. Er war mehr tabellarisch und gar nicht so sehr in Szenen. Und die Personen, die darin vorkamen, hatten keine tiefergehende oder nicht besonders viel eigene Psychologie. Lange gingen wir davon aus, dass es sich eher um eine Oper handeln würde als um einen Film. Aber dann hieß es auf einmal, dass wir doch einen Film machen werden.
Wie haben Sie dann bestimmt, wann Musical-Szenen eingebaut werden sollen?
JA: Wir haben uns die Dialogszenen angeschaut, bei denen man einfach gemerkt hat, dass sie Gesang brauchen. Die Eröffnungsszene ist wie in einem klassischen Musical aufgebaut, bei dem von Anfang an Gesang und Tanz enthalten sind. Und dann wurde gemeinsam mit den Musiker:innen entschieden, wann Gesang eingesetzt oder wann Sprechgesang stattfinden soll. Es gibt auch einige Stellen, in denen Sprechgesang vorkommt, und das war eigentlich eine ganz pragmatische Arbeit, wenn man so will. Das war eine Entscheidung, die wir von Fall zu Fall getroffen haben. Es gab auch einige Szenen, die gedreht wurden und dann einfach nie verändert wurden. Und dann gab es welche, die wir gesungen, gedreht, getanzt und neu gedreht haben. Einiges ist dann auch einfach in den Mülleimer gewandert, weil man es so nicht verwenden konnte.
Im Film geht es primär um Identität. Und letztendlich bildet Sprache ja auch einen Teil der Identität aus. War es für Sie nicht schwierig, den Film in Spanisch zu drehen, da gerade in den Musical-Szenen natürlich sehr viele Nuancen über die Sprache bzw. Betonung ausgedrückt werden?
JA: Ich bin dahingehend sehr naiv und habe eine ziemliche Unschuld. Ich habe ja schon andere Filme gemacht, die nicht in meiner Muttersprache gedreht wurden. Bei „Dheepan“ sind Dialoge auf Tamilisch. Ich spreche aber kein Tamilisch. „The Sisters Brothers“ war auf Englisch. Ich spreche kein Englisch. „Emilia Pérez“ ist Spanisch. Ich spreche kein Spanisch. Für mich ist ein Musikdrama ein Film, für den ich eine reine Beziehung mit der Musik brauche. Und je weniger ich die Sprache dieser Musik verstehe, desto besser kann ich mich auf die Musik einlassen. Natürlich liegen mir auf Französisch Akzent, Aussprache und kleinste sprachliche Nuancen sehr am Herzen. Bei den Sprachen, die ich nicht beherrsche, kann ich mich stattdessen auf die Melodie konzentrieren.
Überspitzt gesagt, könnte man der Figur von Emilia Pérez attestieren, dass sie als Mann versucht hat, die Welt zu zerstören, und sie als Frau wiederum, die Welt zu retten. Ist das auch als Kommentar zu verstehen?
JA: Emilia ist eigentlich eine Illusion und hat viele Illusionen. Es ist an einigen Stellen nahezu lächerlich, was sie sich auf diese Verwandlung einbildet. Sie wird von einem Verbrecher zu einer Heiligen. Es mag sein, dass sie das selbst so empfinden mag, aber das ändert natürlich nichts daran, wer sie wirklich ist. Im Film wird ja auch deutlich, dass sie das frühere Ich nicht einfach abschütteln kann.
Hier seht ihr den deutschen Trailer zu "Emilia Pérez":
Wovor hatten Sie bei der Produktion am meisten Sorge?
JA: Beim Schreiben und beim Drehen habe ich generell Sorge, dass irgendjemand lächerlich gemacht wird. Alle Figuren in meinen Filmen sollen ihre Daseinsberechtigung haben. Niemand soll der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Der Kitsch und das Überhöhte dürfen entstehen, aber mir ist wichtig, dass trotzdem alle abgeholt werden. Ich muss nämlich ehrlich zugeben, dass ich selbst gar kein großer Fan von Musicals im klassischen Sinne bin. Aber dieses unrealistische Element hat unser Film gebraucht. Das bedeutet, dass man auf einmal in einer Szene, die eigentlich auf der Straße spielt, mitansieht, dass die Leute anfangen zu tanzen und zu singen. Das macht doch kein Mensch. Niemand. Sie stehen ja auch nicht auf der Straße und fangen an zu singen und zu tanzen. Aber genau das wurde im Film benötigt.
Hatten Sie eigentlich Ihre Besetzung schon im Kopf?
JA: Tatsächlich ist es nie so, dass ich vor dem Casting schon irgendwelche Personen im Kopf habe. In diesem Fall wollte ich natürlich für die Hauptrolle eine Transschauspielerin haben, und das ist natürlich schon etwas Besonderes. Normalerweise findet erst ein Casting statt, nachdem ich das Drehbuch geschrieben habe. Hier war es allerdings so, dass die Personen im Drehbuch viel zu jung gewesen sind. Rita war eine 25-jährige Anwältin, und Manitas ist ungefähr 35 Jahre alt. Das war ein großer Fehler. Und diesen Fehler, den habe ich erst verstanden, als ich Karla Sofía getroffen habe. Sie hat mir sozusagen die Augen geöffnet, was das realistische Alter meiner Protagonist:innen angeht. Daraufhin habe ich diese Rollen umgeschrieben bzw. das Alter der Figuren geändert.
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Emilia Perez ist seit dem 28. November 2024 in den deutschen Kinos zu sehen!