Mit „Dear Evan Hansen“ startet am 28. Oktober 2021 eine weitere Verfilmung eines bekannten Musicals. Wie gut die Adaption geworden ist erfahrt ihr in unserer Kritik.
Bisher war ein äußerst gutes Jahr für Freunde von Film-Musicals. Mit „In the Heights“ und „Everybody's Talking About Jamie“ wurden direkt zwei hochgelobte Bühnenstücke mit einer mindestens gleichwertigen Adaption bedacht. Nun erscheint mit „Dear Evan Hansen“ ein weiterer Film, dessen Vorlage am Broadway für Furore sorgte – doch die ersten Presse-Stimmen waren teilweise vernichtend. In unserer Kritik verraten wir, ob dies gerechtfertigt ist und an welchen Punkten sich die Geister scheiden. Dabei ist es teilweise sogar wichtig zu unterscheiden, ob man mit dem Bühnenstück vertraut ist oder nicht.
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Hinweis der Redaktion:
Die Geschichte in „Dear Evan Hansen“ dreht sich zum Großteil um psychische Erkrankungen und Suizid. Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Selbstmordgedanken leiden oder jemanden kennen, der daran leidet, suchen Sie das Gespräch mit Ihren Mitmenschen oder lassen Sie sich von der Telefonseelsorge helfen. Sie erreichen sie telefonisch unter 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.
„Dear Evan Hansen“: Die Handlung
In „Dear Evan Hansen“ geht es um den titelgebenden Teenager (Ben Platt). Der hat aufgrund von Angststörungen und Depressionen einen schweren Stand in der High School. Seine alleinerziehende Mutter Heidi (Julianne Moore) tut alles, um ihrem Sohn ein normales Leben zu ermöglichen, arbeitet dadurch aber auch viel und ist kaum zu Hause.
Evan soll sich als Therapie-Aufgabe selbst Briefe schreiben, in denen er erklärt, warum heute ein guter Tag wird. Nach einem Zusammenstoß mit seinem Mitschüler Connor Murphy (Colton Ryan) findet dieser den Brief und verschwindet damit. Am nächsten Tag wird Evan in das Rektoren-Büro zitiert: Connor hat Selbstmord begangen und seine Eltern (Amy Adams, Danny Pino) denken, der Zettel in seiner Hosentasche sei ein Abschiedsbrief an Evan. Als der eingeschüchterte Teenager das Missverständnis nicht sofort aufklärt, entsteht ein Strudel aus Lügen, aus dem er sich scheinbar nicht entziehen kann.
„Dear Evan Hansen“: Für diejenigen, die das Musical nicht kennen
Im Gegensatz zu vielen anderen Musicals verzichtet „Dear Evan Hansen“ fast komplett auf Humor oder überbordende Choreographien. Hierbei soll es sich um ein ernstes Drama handeln, welches seine Hauptfigur stark in den Mittelpunkt rückt. Somit ist der Film ein krasser Kontrast zu „In the Heights“, welcher ein ganzes Ensemble durch die Straßen von New York tanzen ließ.
Das bedeutet aber nicht, dass der geerdete Ansatz nicht auch funktionieren kann. In Musicals wird grundsätzlich immer dann gesungen, wenn Worte nicht ausreichen, um die eigene Gefühlslage auszudrücken. Mit Evan hat man einen Protagonisten, bei dem dies häufig der Fall ist, weswegen er die meisten Nummern des Films singen darf. Leider ist der Aufbau der Songs häufig gleich: Langsamer Beginn, nach dem ersten Refrain steigt die Spannung bis zum Höhepunkt, danach gibt es noch eine Art kleines Outro. Deswegen bleiben eben die Lieder am längsten im Kopf, die dieser Formel nicht folgen, wie das beschwingte „Sincerely, Me“ oder „Requiem“, in dem ausnahmsweise nur die Murphy-Familie darüber singt, wie sie mit dem Verlust des Familienmitgliedes umgehen.
Hierbei sollte erwähnt sein, dass es durchaus einen Unterschied macht, ob der Film auf Deutsch oder Englisch geschaut wird. Während der Soundtrack auf den eingängigen Streaming-Diensten nur in der Originalsprache zu finden ist, wurden die Lieder für den hiesigen Release übersetzt. Somit mag etwas von der Atmosphäre verloren gehen. Dennoch war es eine gute Entscheidung für alle, die des Englischen nicht mächtig sind. Denn viele Emotionen und Figuren-Entwicklungen werden durch die Texte transportiert, da wären Untertitel wie bei „The Greatest Showman“ vermutlich nur hinderlich gewesen.
„Dear Evan Hansen“: Die drei größten Probleme
Es hängt am Ende an drei Faktoren, ob man als Zuschauer*In Spaß an dem Film hat. Zum einen wirkt die grundlegende Prämisse, dass Evan sich durch ein Geflecht aus Lügen bei den Murphys beliebt macht, auf den ersten Blick befremdlich. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass es sich bei dem Protagonisten nicht um einen Helden handelt, sondern um jemanden, der in seinem eigenen Haus seiner Ansicht nach zu wenig Geborgenheit erfährt. Leider kommt Julianne Moores Mutter-Figur im Film deutlich zu kurz, um hier ein sinnvolles Gegengewicht zu liefern.
Bei den Murphys findet Evan alles, was er zu Hause vermisst, zusammen mit seiner ersten Liebe Zoe (Kaitlyn Dever). Dass es ihn daraufhin leichter fällt, weiterhin zu lügen als die Wahrheit zu sagen, ist vermutlich etwas, was viele Menschen leider nachvollziehen können – und letzten Endes hat der Film auch kein richtiges Happy End, Evan muss die Konsequenzen seines Handelns tragen.
Die anderen beiden Aspekte drehen sich um Hauptdarsteller Ben Platt. Platt hatte die Rolle durch seine Zeit am Broadway überhaupt erst bekannt gemacht, wofür er unter anderem den Tony-Award, im Grunde genommen den Musical-Oscar, als bester Hauptdarsteller gewann. Allerdings ist er inzwischen auch schon 28 Jahre alt. Schon als der erste Trailer veröffentlicht wurde, gab es viele Kommentare darüber, dass er viel zu alt aussieht, um als Teenager durchzugehen, was zusammen mit der Geschichte bei vielen für einiges Unbehagen sorgte. Dieses Empfinden kann man niemanden absprechen, jedoch merkt man, wie sehr Platt die Rolle verinnerlicht hat. So verschwand zumindest für uns der fast 30-Jährige nach kurzer Laufzeit immer mehr und wir sahen tatsächlich einen Teenager vor uns.
Das letzte Problem ist die Darstellung von psychischen Krankheiten. Evan neigt zu komisch wirkenden Manierismen, er läuft buckelig und redet viel zu schnell, wenn er denn überhaupt mal etwas sagt. Wie nahe das an der Realität vieler Menschen ist, die an ähnlichen Krankheiten leiden, können wir nicht sagen – es half aber zu verstehen, wo genau die Probleme der verschiedenen Personen liegen. Dementsprechend hatten wir mit „Dear Evan Hansen“ soweit eine tolle Zeit, allerdings gibt es mit etwas mehr Hintergrundwissen einige Kritikpunkte mehr.
„Dear Evan Hansen“: Für diejenigen, die das Musical kennen
Wer sich den Soundtrack genauer anschaut, wird schnell feststellen, dass insgesamt vier Songs aus dem Bühnenstück fehlen. Dafür finden zwei neue Lieder ihren Weg in den Film: „The Anonymous Ones“ und „A Little Closer“ helfen zwar, zwei Nebenfiguren etwas mehr Tiefe zu geben. Jedoch geht dies auf Kosten anderer Figuren, die eigentlich wichtiger gewesen wären, um Evans Entscheidungen besser nachvollziehen zu können oder ihm Kontra zu geben.
Denn mit „Anybody Have A Map?“ und „Good for You“ fehlen zwei Songs, die vor allem die Erwachsenen in den Mittelpunkt rücken, allen voran Heidi. Da die restlichen Dialoge jedoch fast wortwörtlich aus dem Stück übernommen wurden, fehlt so manchmal ein wichtiges Stück Figuren-Entwicklung oder Introspektive. Nachdem Evan seiner Mutter sehr schlimme Dinge an den Kopf wirft, hat sie kein Ventil, sondern verschwindet schlichtweg für einige Zeit – nur um ihren Sohn am Ende Absolution zu erteilen.
„To Break in a Glove“ hat immerhin eine Dialog-Szene bekommen, die genau vermittelt, was in dem Song eigentlich über Connors Stiefvater Larry ausgesagt wird. Umso ärgerlicher ist es, dass dies nicht bei den anderen Liedern geschehen ist. Warum „Disappear“ dann durch das neue „The Anonymous Ones“ ausgetauscht wurde erschließt sich ebenfalls nicht wirklich.
„Dear Evan Hansen“: Letztes Fazit
Diese macht „Dear Evan Hansen“ nicht zu einem schlechten Film. Aber sie zeigen gut auf, wieso manche Dinge denjenigen, die das Stück vor dem Kinogang nicht kannten, wahrscheinlich sehr komisch vorkommen. Emotional mitreißend bleibt die Geschichte über weiter Strecken dennoch, die Songs haben inzwischen auch nicht ohne Grund Kultstatus am Broadway. Nur leider wirken sich die Änderungen, die für die Leinwand gemacht wurden, stets negativ aus. Dazu kommt dann die für manche wahrscheinlich fragwürdige Wahl des Hauptdarstellers, welche für viele Zuschauer*Innen den Film weit ins Negative kippen lassen kann. Dennoch sollten alle, die Film-Musicals oder intensiven Dramen nicht komplett abgeneigt sind, einen Blick riskieren.
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