Unglaubliche Konzerte, begeisterte Acts und stundenlange Schlangen: Das 20. Jubiläum des Primavera Sound Festivals war in jeder Hinsicht von Superlativen begleitet und könnte doch zu einem schicksalhaften Wendepunkt in der Geschichte des Ausnahmefestivals werden.
Als "Pavement" am späten Donnerstagabend ihr Primavera Sound 2022-Set mit "Frontwards" eröffneten und damit ihre sehnlichst erwartete Reunion als Haupt-Headliner des ersten Festival-Wochenendes feierten, zauberten die Klänge von Stephen Malkmus & Co. vielen Besucher*innen ein Grinsen ins Gesicht, während andernorts die Verzweiflung und der Frust wohl noch ein Stückchen größer wurden. Während die US-Ausnahmeband ein wunderbares Set auf der Hauptbühne des „Primavera Sound“-Festivals schmetterte mit unzähligen Hits und gleichzeitig auch unerwarteten Deep Dives aus ihrer beeindruckenden Diskographie, standen woanders immer noch zahlreiche Pavement-Fans in den gefühlt ewigen Warteschlangen vor den Bars und mussten im Schnitt locker ein bis zwei Stunden warten, um sich mit Bier bzw. Wasser einzudecken.
Primavera Sound Festival 2022: Tag 1 wurde zur Belastungsprobe für das Festival
Letzteres war auch eines der Hauptprobleme des ersten Festivaltages: Bei wieder einmal traumhaftem katalonischem Sommerwetter wurde es auf dem Gelände des Parc del Forum natürlich sehr heiß. Die Einlasspolitik des Festivals gewährte jedoch maximal eine 0,33l geöffnete (!) PET-Flasche. Wasser gab es am gesamten Gelände lediglich an zwei Wasserspendern, die für die angeblich über 65.000 Zuschauer*innen am ersten Festivaltag natürlich ein schlechter Scherz waren. Somit gab es keine wirkliche Alternative zur Barschlange. Pandemie-geplagt waren am Eröffnungstag allerdings sowohl die Bars miserabel besetzt (laut Veranstaltern führten viele Covid-19 bedingte Ausfälle zum Personalengpass), als auch das Personal unerfahren: Getränke aufnehmen, abkassieren und selbst zubereiten sorgte für lange Verzögerungen. Zwischendurch fielen auch die Kartenlesegeräte aus, was der Situation nur noch zusätzlich verschärfte. Die Situation war ernst - so ernst, dass einige festivalhungrige Zuschauer*innen das Gelände lange vor dem Konzert von „Pavement“ wieder verlassen mussten, weil sie auf der Suche nach Wasser an ihre Grenzen gestoßen waren.
Der Start des Festivals hätte trotz den großartigen Auftritten von Pavement, Sharon Van Etten & Co. also kaum schlechter ausfallen können: Generell wirkte das Gelände des Parc del Forum so ausgelastet, wie noch nie zuvor. Laut Veranstaltern war der 1. Festivaltag des Doppel-Festivalwochenendes mit 66.000 Zuschauer*innen zwar angeblich der besucherschwächste Tag der insgesamt sechs Festivaltage, doch wer bspw. vor der Cupra- bzw. ehemaligen Ray Ban-Stage das Zuschauer*innen-Meer überblickte, konnte seinen Augen kaum trauen: "So voll war es hier wirklich noch nie", bekam ich gleich von mehreren Kolleg*innen bestätigt, die bereits seit Jahren zu Stammgästen des Primavera Sound Festivals gehören. Auch auf dem Gelände hatte das Folgen: Ein Zugang zur Binance-Stage sorgte für ein gefährliches Nadelöhr im Gelände, weil direkt daneben ein abgetrennter VIP-Zugang installiert und die Bühne etwas zu den Vorjahren verschoben wurde. In Foren und unter Instagram-Beiträgen war die Stimmung extrem aufgeheizt und kritisch, was unter anderem auch daran lag, das kurz vor dem Festivalstart einige größere Headliner wie bspw. „Massive Attack“ oder „The Strokes“ (am 01. Wochenende) ausfallen mussten und kurz- bzw. langfristig nicht mehr ersetzt wurden.
Primavera Sound Festival 2022: Die Veranstalter reagieren umgehend
Man muss den Veranstaltern zugutehalten, dass die desaströsen Zustände tatsächlich ernst genommen und sofort reagiert wurde: Gleich an mehreren Stellen des Festivals wurden kontinuierlich geöffnete Wasserdosen bzw. -Flaschen kostenlos an die Zuschauer*innen ausgehändigt. Die Bars waren ab Tag 2 deutlich besser besetzt und wurden effizienter betrieben, so dass sich die Wartezeiten an den darauffolgenden Festivaltagen definitiv im Rahmen hielten. Für die zugegebenermaßen notwendige, aber auch blitzschnelle Reaktion gebührt den Verantwortlichen deshalb Respekt. Den Eindruck, dass das Festival deutlich „voller“ war, als in den Vorjahren änderte sich jedoch nicht grundlegend: Gerade der Mainstage-Bereich, bei dem die Hauptbühnen nun erstmals nebeneinander bespielt wurden anstatt gegenüberliegend, wurde seinem zweifelhaften Spitznamen „Mordor“ immer wieder gerecht. Das klingt alles erst einmal sehr negativ, was es leider auch ist, weil doch gerade einer der großen Reize des Primavera Sound Festivals daran lag über das eigentlich beeindruckende Gelände schlendern zu können und eben Acts und Auftritte mitzunehmen, die eben nicht bereits auf der meist gut gefühlten Must-See-Liste stehen. Doch der Zugang zu einzelnen Bühnen war zu Beginn oftmals gnadenlos überfüllt bzw. fast unmöglich, wie ich als Black Midi-Fan nach dem Pavement-Konzert schmerhaft feststellen musste.
Es ist auch deshalb so wichtig ausführlich über die organisatorischen Verfehlungen und Missplanungen zu reden, weil sie komplett konträr zu den musikalischen Eindrücken des Startwochenendes laufen: Wieder einmal gehörten zahlreiche Auftritte beim Primavera Sound Festival 2022 zu absoluten Highlights des bisherigen Konzertjahres. Ich hatte es schon in früheren Artikeln geschrieben und kann mich nur nochmal wiederholen: Man hat bei fast allen Bands das Gefühl, dass es sich eben NICHT um einen 08/15-Festivalauftritt handelt. Wenn sich bei den Idles zu „Danny Nedelko“ in der späten Nacht Wut und Frust in eine unglaubliche Energie umwandelt, die vom gesamten Cupra-Publikum mit einem gewaltigen Mosh Pit, Hüpf- und Singeinlagen widergespiegelt wurden. Das sind definitiv Momente, die für ein Festival einzigartig sind. Dazu natürlich erwartete emotionale Höhepunkte wie der meisterhafte Auftritt von Nick Cave and the Bad Seeds, die grandios aufspielenden The National, die wahnsinnig intensiven Klangwelten von LOW im Auditori oder der ekstatische erste Gig von King Gizzard & The Lizard Wizzard, die das Primavera gleich mit fünf Auftritten beglückt haben. Musikalisch brachte das „Primavera Sound 2022“ am ersten Wochenende dennoch so viele grandiose Konzertauftritte hervor, dass der Frust und die Wut über den ersten Festivaltag relativ schnell verflogen war.
Primavera a la Ciutat: Konzerte hui, Menschenschlangen pfui
Aufgrund der Feierlichkeiten zum 20. Jubiläum hatte das Primavera Sound 2022 in diesem Jahr zahlreiche Konzerte und Auftritte zwischen den beiden Festivalwochenenden in viele unterschiedliche Clubs und Musikstätten in der Innenstadt versammelt. Tatsächlich entpuppten sich die als absoluter Glücksfall – wenn man denn die Möglichkeit bekam irgendwann auch tatsächlich zu Konzertstart in der Location zu sein. Denn besonders diejenigen, die nur ein Wochenendticket besaßen, mussten teilweise stundenlang in der Nachmittagswärme in Schlangen vor den Locations ausharren, um bspw. Megan Thee Stalion, Interpol oder Beck in kleineren Locations erleben zu können. Auch hier wurde es erneut chaotisch, weil oftmals unklar war, welche Schlange zu welcher Location führte.
Tatsächlich waren die Show die lange Ansteherei dann aber tatsächlich Wert. Gerade die Dreierkombo Iceage, King Gizzard and the Lizard Wizard und Les Savy Fav sorgte für einen der legendärsten Konzertabende, dem ich bisher beim Primavera Sound beiwohnen durfte. Während Iceage ein energetisches Set zum Auftakt gaben, war die erste „kleine“ Show von King Gizzard and the Lizard Wizard absolut ekstatisch und mitreißend. Besonders der ausführlich „I’m in your Mind Fuzz“-Beginn brachte die euphorische Menge quasi direkt zum Kochen. Der gute Teil des Publikums, der danach aufgegeben hat, ist fast schon zu bemitleiden, denn Les Savy Fav sorgten mit einer exzentrisch-grandiosen Darbietung für die vielleicht glückseligsten 60 Minuten des Festivals. Sänger Tim Harrington hängte sich mit seinem kompletten Körper zu „Hold on to your genre“ über die Brüstung eines Balkons der Location und kletterte dann weiter auf dem Geländer rum, um später dann Massenkuscheln auf der Tanzfläche zu zelebrieren. Was für ein unfassbarer Auftritt! Auch die Konzerte der folgenden Tage konnten sich sehen und vor allem hören lassen: Generell war es natürlich eine Freude Bands wie Slowdive oder Interpol noch einmal im kleinen Rahmen zu hören und zu sehen. Gerade letztere gingen auf der Mainstage im Hype um Gorillaz bzw. Dua Lipa dann doch eher etwas runter, aber konnten ihr Repertoire im vergleichsweise kleinen Apolo-Saal wunderbar zur Geltung bringen.
Primavera Sound Festival 2022: Das 2. Wochenende und die Lehren eines XXL-Festivals
Das 2. Weekend des Primavera Sound war vor allem aus Pop-Sicht eine absolute Offenbarung: Neben Dua Lipa war auch Charli XCX ein weiteres Mal auf der Tous-Stage im Bits-Gelände zu sehen. Letzteres Konzert ziehe ich in meiner Beurteilung auch schnell vor: Auch wenn ich mit der Musik von Charli XCX nicht allzu stark vertraut bin, konnte sich die Pop-Künstlerin über ein wirklich enthusiastisches Publikum ab und lieferte eine überragende Bühnenshow auf allerhöchstem Niveau. Den Anfang des Tages machten hingegen die wunderbaren Dry Cleaning mit ihrer grandiosen Fronfrau. Während das Squid-Set unserem Geschmack nach einen Ticken zu experimentell war und der Sound auf der Cupra-Stage nicht seinen allerbesten Tag hatte, wurde das Ganze bei Slowdive schnell wieder vergessen, die gemeinsam mit Mogwai wieder einmal eine der schönsten Wall of Sounds des Primavera Sound-Wochenendes geboten haben. Übrigens bin ich statt zum Massenandrang von Dua wieder einmal bei King Gizzard gelandet: Das vergleichsweise gemütlich-überschaubare Publikum wurde bei der XXL-Version von „Rattlesnake“ zum Ende ihres allerletzten Primavera-Sets aber nochmal ordentlich durchgepeitscht. Mein Kollege Bruno war hingegen von der souveränen Hochglanz-Darbietung von Dua Lipa durchaus angetan.
Zu den weiteren Highlights des 2. Wochenendes gehörte der absolut mitreißende und betörende Auftritt des Radiohead-Ablegers The Smile, die wunderbaren Yeah Yeah Yeahs, Phoenix, die einfach ihrem Headliner-Slot am allerletzten Primavera-Tag mehr als nur gerecht wurden sowie die extrem gutlaunigen Rolling Blackouts Coastal Fever, die der vom Boiler Room soundgebleedeten „Plenitude“-Stage spaßige Riffs und viel Energie beschert haben. Körperlich mit allerletzter Kraft habe ich mich tatsächlich um 3 Uhr nachts noch einmal zur finnischen Psychedelic-Metal-Band Oranssi Pazuzu in den Mosh Pit geworfen: Auch wenn das Publikum auf der Ouigo-Stage äußerst überschaubar war, mobilisierte die Band mit ihrem düsteren und mitreißenden Riffs noch einmal meine allerletzten Kräfte und bescherte das schönstmögliche Fin(n)ish für ein außergewöhnliches und grandioses Festival.
Musikalisch bleibe ich dabei, dass es kaum ein Event gibt, das meinen Musikgeschmack dermaßen gut trifft und eine solche Dichte an außergewöhnlichen und hochklassigen Konzerten bereithält. Gleichzeitig ist das Primavera Sound 2022 eben nicht das Primavera von vor fünf Jahren, dass mich damals voll in seinen Bann gezogen hat: Die Expansion, sei es auf andere Editionen in São Paulo, L.A. & Co. oder auf die Ausweitung auf Primavera Sound 2023 in Barcelona und Madrid lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass das Festival weiter wachsen wird bzw. möchte – komme, was wolle. Dass das Gelände in diesem Jahr noch nicht vollends ausgelastet war, lässt ebenfalls eher die Alarmglocken schrillen, als dass es Vorfreude auf die nächste Edition macht. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Verantwortlichen wissen, was die Magie dieses absoluten Ausnahmefestivals ausmacht. Es wäre bitterschade, wenn das Primavera Sound irgendwann nur zu irgendeinem "weiteren" Festival mutieren würde...
Text von David Rams und Bruno Kelsch