„Deutschlands bester Schauspieler“, „schräger Vogel“, „Genie“, „der ewig Nackte“ – all diese Etiketten musste und durfte Schauspieler Lars Eidinger sich in der Vergangenheit bereits anheften lassen. Die nahezu schaurige Verschmelzung zwischen dem 43-Jährigen und seinen Film- und Serienfiguren übt Faszination aus, wie Eidinger die Symbiose zustande bringt, ist und bleibt vielen Zuschauern allerdings ein Rätsel.
Im Rahmen eines Interviews zu Eidingers Film „All my Loving“ im Mai 2019 sprach „TV Movie Online“-Redakteurin Anna Peters mit dem Schauspiel-Chamäleon über das ein oder andere schlüpfrige Thema. Eidinger verriet im Gespräch nicht nur, was Schauspielerei mit Untreue zu tun hat, er erklärte auch, wie schmal für ihn der Grat zwischen Fiktion und Realität ist, warum er sich 2016 auf der Berlinale vor versammelter Mannschaft die Hose herunterzog und was ihn am ewigen Gerede über sein bestes Stück nervt.
TV Movie Online: Das ist jetzt eine steile Theorie, aber findest du, man könnte sagen, dass Schauspielerei die Gelegenheit zur „indirekten Untreue“ bietet? Als Otto Normalverbraucher ist die einzige Möglichkeit aus einer monogamen Beziehung auszubrechen, fremdzugehen. Schauspieler hingegen haben häufiger die Möglichkeit, anderen Menschen – und zwar ganz öffentlich, auf der Bühne oder vor der Kamera – nah zu kommen. Zumindest, wenn man mit Moritz Bleibtreu übereinstimmt, der mir kürzlich verriet, dass man einen Kuss gar nicht spielen kann. Was hältst du von dieser Theorie?
Lars Eidinger: „Stimmt! Man küsst jemanden in der Rolle genauso, wie man auch privat küssen würde. Ich habe noch nie jemanden als Figur XY geküsst. Ich habe noch nie anders geküsst, weil ich dachte ‚so küsst die Figur‘. Ich küsse den Kollegen dann genauso, wie ich auch privat küsse.“
Die Grenze zwischen Realität und Fiktion kann bei der Arbeit also verschwimmen?
„Früher dachte ich immer, ich muss das Fiktive dadurch anreichern, dass ich Sachen einfließen lasse, die ich privat erlebt habe. Mittlerweile bin ich vom Gegenteil überzeugt. In der Fiktion habe ich schon Dinge erlebt, die mir der Alltag gar nicht bietet – an Dimensionen, an Beträgen, an Tragik. Auch in Hinblick auf deine Theorie. Ich kann im Film spielen, dass ich jede Nacht eine andere Frau im Hotel abschleppe und mir eine davon einen Dreier in Aussicht stellt und mir vorstellen, wie das ist. Wenn man den Beruf so betreibt, wie ich ihn verstehe, dann wird es irgendwie Teil meines gelebten Lebens. Ich unterscheide nicht so klar zwischen Fiktion und Realität. Ich bin trotzdem immer als Mensch anwesend. Es gibt diesen Katja Ebstein-Song von Bernd Meinunger getextet: ‚Alles ist nur Theater und ist doch auch Wirklichkeit‘. Das finde ich total triftig. Ich bin ja kein Avatar oder eine virtuelle Figur, ich bleibe ich. Wenn ich mich auf die Situation einlasse, dann erlebe ich es auch, wenn es mir gelingt. Und dann wird es Teil meines Erfahrungsschatzes. Ein bisschen wie Rollenspiele in einem therapeutischen Kontext.“
Aber ist diese Vermischung von Privatem und Beruflichem nicht auch manchmal anstrengend? Bei meiner Recherche für dieses Interview ist mir aufgefallen, dass du beispielsweise immer wieder auf deinen Penis angesprochen wirst – der Spruch mit dem Bonsai-Baum bei ‚Disslike‘ war übrigens großartig. Wie geht man damit um? Nacktheit ist ja etwas Intimes. Du wirst auf Dinge angesprochen, die Nicht-Schauspieler eben gar nicht erst nach außen tragen müssen oder können.
„Ich habe im Allgemeinen überhaupt kein Problem darüber zu sprechen. Es ist nur in dem Moment doof, in dem man darauf reduziert wird und es plötzlich heißt, ‚das ist der Schauspieler, der auf der Bühne immer nackt ist.‘ Ich mache noch ganz viele andere Sachen, die eben nicht gesehen werden. Sobald man im Interview etwas über Sex sagt, ist das bei Google einer der ersten Treffer und taucht immer wieder auf. Dann muss man sich entscheiden, ob man das immer wieder bedienen will.
Ich bin bei der Berlinale beim Auflegen mal aus Übermut auf den Tisch gesprungen und habe meine Hose runtergezogen…“
Komplett?
„Ja, das habe ich früher eigentlich immer gemacht. Man überschreitet damit zwar eine Grenze, aber man kommuniziert den Anwesenden auch, dass es Spaß macht, sich gehen zu lassen. Das hat immer funktioniert, weil es in einem euphorischen Moment passiert ist und hat nicht dazu geführt, dass die anderen sich distanzieren. In dem Moment, in dem ich das bei der Berlinale gemacht habe und es dann plötzlich auf dem Titelblatt der ‚BZ‘ war, habe ich es nie wieder gemacht, weil ich das Gefühl hatte, die Leute warten geradezu darauf. Das finde ich schade. Ab einem gewissen Grad an Prominenz kann man solche Sachen nicht mehr machen.“
Deshalb ließ Lars Eidinger auf der Berlinale 2016 buchstäblich die Hose runter
Es war also nicht geplant, sondern eine spontane Aktion, weil es dich einfach überkam?!
„Es hat ja etwas Irrationales. Ich habe das ja nicht gemacht, weil ich damit etwas bezwecken wollte, sondern weil es mich überkommen hat und ich impulsiv war. Es ist schade, dass man sich das irgendwann verbieten muss, weil man Angst haben muss, dass man missverstanden wird oder, weil es gegen einen verwendet wird. Dann wird man immer vorsichtiger. Das ist auch das Problem am Internet. Wenn du etwas einmal gesagt hast, taucht es immer wieder auf. Bei vielen Leuten führt das dazu, dass sie sich nicht mehr so frei und ehrlich äußern, wie ich das immer noch mache. Viele sagen mir, ‚du sagst das einfach so, hast du keine Angst, dass es dir schadet.‘ Sie wundern sich, dass jemand so vermeintlich ehrlich oder aufrichtig ist.“
Das macht dich aber authentisch!
„Ich finde es schade, wenn man irgendwann anfängt, sich zu schützen. Im Grunde geht es auch darum, dass ich etwas verstehen will über mich oder die Welt und wenn ich anfange, den Leuten etwas vorzumachen, dann belüge ich mich selbst und davon habe ich eben nichts. Deshalb ist es mein Credo, möglichst aufrichtig zu sein. Es ist reiner Selbstzweck. Das höchste Gut eines Schauspielers ist seine Glaubwürdigkeit. Weil man dann als Zuschauer die Möglichkeit hat, sich mit ihm zu identifizieren. Wenn man dem Schauspieler nicht mehr glaubt, distanziert man sich. Und wenn man es erstmal verloren hat, dann ist das irreparabel.
Das heißt nicht, dass alles, was ich sage, stimmt. Es gibt ja nicht nur eine Wahrheit. Glaubwürdig ist man, wenn das, was man denkt mit dem übereinstimmt, was man sagt. Wenn dem nicht so ist, spürst du das, auch wenn du es nicht benennen kannst. Ich erhebe nicht den Anspruch, dass alles, was ich sage richtig ist oder wahr. Am nächsten Tag kann ich dir auch das Gegenteil erzählen. Aber in dem Moment, in dem ich es sage, deckt es sich mit meinen Gedanken.“
Vielen Dank für das offene und nette Gespräch!
* von Anna Peters